Ein neues Paper der Europäischen Zentralbank (EZB) schlägt neue Töne an: Es diskutiert, was es für die Gesellschaft bedeutet, wenn der Bitcoin-Preis immer weiter steigt. Ein Umdenken bei der EZB deutet sich leider nicht an.
In der Bitcoin-Szene wird das kürzlich erschienene Paper von zwei EZB-Ökonomen als „Kriegserklärung“ kritisiert. Das ist so wahr wie falsch.
Denn im Grunde sagt das Paper The distributional consequences of Bitcoin exakt dasselbe, was Bitcoin-Maximalisten seit langem predigen: Have fun staying poor – Bitcoin zu verpassen kann ein teurer Spaß sein.
Aber was folgt daraus, wenn das Meme zur Wirklichkeit wird? Was geschieht, wenn der Bitcoin-Kurs immer weiter steigt?
Dieser Frage widmet sich der durchaus intelligente und interessante Aufsatz.
„Die am wenigsten schädliche Anwendung von Bitcoin“
Die beiden Autoren, Ulrich Bindseil und Jürgen Schaaf, starten mit einer Bestandsaufnahme: Bitcoin wurde vom Zahlungsmittel zum Wertspeicher.
Die „Nakamoto-Vision“ von Bitcoin als „P2P-Zahlungsmittel“ hat sich nicht verwirklicht. Als Zahlungsmittel kursiere Bitcoin vor allem unter Kriminellen, unter Hacker, Dealern, Betrügern, Waffenhändler und so weiter.
Unter Nicht-Kriminellen dagegen dominiere die „am wenigsten schädliche“ Anwendung von Bitcoin: investieren, halten, spekulieren, dass der Preis weiter steigt.
Die Anwendung als Zahlungsmittel – überhaupt eine Anwendung – wird überflüssig. Bitcoin gilt als „Investmentprodukt, dessen Wert für eine lange Zeit steigen wird, unabhängig davon, ob es einen spezifischen Nutzen für die Gesellschaft bringt.“
Zahlreiche prominente Investoren – BlackRocks Larry Fink, die Winklevoss-Brüder, Football-Star Tom Brady – glauben, „dass eine Gesellschaft sich um jedes Asset koordinieren kann, wenn das Angebot begrenzt oder endlich ist.“ Wenn eine Gesellschaft sich dafür entscheidet, dass Bitcoin Werte speichert, dann speichert Bitcoin Werte – und der Preis steigt immer weiter.
Das Paper beschreibt skeptisch, aber treffend in der Sache die gegenwärtig dominante Perspektive auf Bitcoin. Das Besondere ist aber, dass die beiden Autoren diese ernst nehmen.
Verarmung, weil Bitcoin verpasst
Wenn die EZB sich bisher mit Bitcoin beschäftigt hat, warnte sie meist vor Verlusten durch ein Bitcoin-Investment.
Wer an der Spitze einer Blase einkaufe, mache Verlust; da Bitcoin keinen inhärenten Wert habe, sei er kein vertrauenswürdiger Wertspeicher, wer ihn als solchen behandle, drohe, seine Ersparnisse zu verlieren. Und so weiter. Man kennt diese Warnungen zur Genüge.
Nun, im neue Paper, sorgen sich Schaaf und Bindseil vor etwas anderem: davor, dass Leute die üblichen Warnungen ernst genommen haben – dass sie ärmer werden, weil sie NICHT oder ZU SPÄT in Bitcoin investieren: „Dieses Paper demonstriert, dass in einem Bitcoin-positiven Szenario“ – also im Erfolgsfall von Bitcoin – „weder ungünstiges Timing im Handel noch das Halten von Bitcoin notwendig sind, um Verarmung auszulösen.“
Ein solcher Perspektivenwandel ist bemerkenswert. Die beiden Autoren geben vorsichtig zu, dass es möglich sei, dass Bitcoiner doch recht und die Euro-Banker unrecht hatten.
Des einen Gewinn ist des anderen Verlust
Die Herleitung ist an sich nicht weiter kompliziert. Sie verlangt aber von Ökonomen wie Schaaf und Bindseil, mit einigen typischen Glaubenssätzen zu brechen.
Erstens kann der Bitcoin-Preis steigen, ohne dass Bitcoin einen produktiven Nutzen erfüllt. Es ist nicht nötig, dass sich die „Nakamoto-Vision“ vom elektronischen Bargeld durchsetzt. Es reicht „der selbsterfüllende Glauben an ein eine steigende Bewertung.“
Man habe anzuerkennen, dass Gesellschaften auch willkürlich erscheinende, nicht auf realem Nutzen basierende „Glaubens-Gleichgewichte für eine lange Zeit erhalten können.“ Die jahrtausendealte Geschichte der Religion illustriert „die bleibende Kraft des Glaubens über die wissenschaftliche Logik.“
Wenn dann zweitens der Preis von Bitcoin steigt, schafft dies Reichtum für Investoren – jedoch ohne, wie etwa bei Aktien, das produktive Potenzial einer Volkswirtschaft zu verbessern. Es handelt sich um ein Nullsummenspiel: der Kuchen wächst nicht, er wird nur anders verteilt.
Und wenn die Bitcoin-Besitzer gewinnen – dann verlieren logischerweise die anderen.
Early Birds und Latecomer
Die beiden Ökonomen simulieren diese Umverteilung nun mit einem vereinfachten Modell mit zwei Akteuren: Early Birds, die früh Bitcoins kauften, und Latecomer, die später kommen.
Während der Preis steigt, verkaufen die Early Birds Bitcoins an Latecomer. Diese verzichten dafür auf Konsum oder stoßen andere Vermögenswerte ab, während die Early Birds die Einnahmen verkonsumieren oder in traditionelle Vermögenswerte investieren.
Schaaf und Bindseil setzen dann einige eher willkürliche Werte – wie viel Prozent die Early Birds im Jahr verkaufen, wie die Latecomer den Kauf finanzieren, wie viel Zinsen Wertpapiere abwerfen, wie stark der Bitcoin-Kurs steigt – und simulieren durch diese das Modell.
Das Ergebnis dürfte nicht überraschen: Die Early Birds werden immer reicher, die Latecomer immer ärmer. „Alle Wohlstands-Effekte, welche die Early Adopter genießen, wenn der Preis steigt, entstehen durch die Verluste der später Kommenden (und nicht-Besitzer), welche ärmer werden.“
Die „neuen Lamborghini, Rolex, Villen und Aktienportfolios früher Bitcoin-Investoren,“ erklärt das Paper, „entstehen nicht durch eine Erhöhung des wirtschaftlichen Produktions-Potenzials; stattdessen werden sie durch den schwindenden Konsum und Wohlstand derjenigen finanziert, die später Bitcoins kaufen.“
Bitcoin zu verpassen sei daher „nicht nur eine versäumte Gelegenheit, Wohlstand aufzubauen, sondern bedeutet, Wohlstand zu verlieren im Vergleich zu einer Welt ohne Bitcoin.“
Die einzige logische Antwort
Aber was folgt daraus? In einer Welt mit Bitcoin gibt es darauf nur eine einzige verantwortungsbewusste Antwort.
Wenn Bitcoin ein Nullsummenspiel ist, wenn also die Early Adopter gewinnen und die Latecomer verlieren – dann wird Europa gewinnen, wenn es früher in Bitcoin ist, und verlieren, wenn es zu spät kommt.
Nur für den Fall, dass sich das „positive Szenario“ erfüllt, sollten EZB, Banken und staatliche Behörden eine Teil ihrer Reserven in Bitcoins halten, während man die Bürger Europas auffordert, Bitcoins zu kaufen. Wenn passiert, was die Autoren für möglich halten, wird Europa dann zum Early Bird.
Hinkt Europa dagegen nur hinterher, werden andere Länder, etwa die USA oder die Golfstaaten zu Early Birds – und Europa zum Latecomer, der an Wohlstand verliert.
Es liegt auf der Hand, ist aber nicht das, was Schaaf und Bindseil schlussfolgern. Die EZB-Ökonomen mochten Bitcoin schon nicht, als sie überzeugt waren, dass er scheitern könnte. Nun, da er gewinnen könnte, mögen sie Bitcoin noch viel weniger.
„Bitcoins Wachstum hemmen oder es eliminieren“
Eine Umverteilung von Wohlstand, wie er in dem Paper simuliert wurde, werde nicht ohne „schädliche Konsequenzen für die Gesellschaft“ geschehen. Sie wird die Latecomer frustrieren und die Spaltung der Gesellschaft weiter antreiben.
Bitcoiner haben gute Gründe, für Bitcoin zu werben. Sie sind, selbst wenn sie es nicht wissen, Gewinner der Umverteilung. Diejenigen dagegen, die noch keine Bitcoins halten, „haben überzeugende Gründe, gegen Bitcoin zu sein und beim Gesetzgeber gegen ihn einzutreten, mit dem Ziel, dass Bitcoin nicht weiter im Preis steigt oder ganz verschwindet.“
Auf Twitter (heute X) wiederholt Schaaf den letzten Satz etwas schärfer: Nicht-Holder sollten „dafür eintreten, dass die Politik Bitcoins Wachstum hemmt oder es sogar eliminiert.“ Ob das Wachstum oder Bitcoin selbst bleibt dabei nebulös, doch wenn man zurück zu ersten Version aus dem Paper geht, wäre es plausibel, dass Bitcoin dass Objekt dieser Auslöschungsphantasie ist.
Damit trennen Schaaf und Bindseil leider nur wenige Seiten zwischen der Einsicht, sich womöglich geirrt zu haben, und einer Kriegserklärung an diejenigen, die es besser gewusst haben. Denn es darf nicht sein, was nicht sein soll, und wenn doch, dann ist es zu bekämpfen.
Man kann nur hoffen, dass die EZB und mit ihr die EU nicht dem Kurs folgt, der Wirklichkeit den Krieg zu erklären anstatt sich an sie anzupassen.