Der wichtigste Stablecoin, der Tether-Dollar, verliert fast ein halbes Prozent gegen den Dollar. Droht damit der große Crash des Ökosystems? Oder ist es wieder nur ein Schluckauf? Der Fall zeigt einmal mehr, warum die Blockchain die Zukunft des Finanzwesens sein muss.
Ein Crash im Finanzwesen geschieht immer in zwei Zeiten.
Auf der einen Seite gibt es den unmittelbaren Crash. Er reagiert auf ein Ereignis, etwa die Klage der SEC gegen Binance und Coinbase (alternativ: der Ausbruch von Corona), und schickt meist den gesamten Markt auf Talfahrt, wobei verschiedene Kryptowährungen oder Aktien je nach Risiko mehr oder weniger tief fallen. Das ist die offensichtliche Zeitebene. Sie liegt vor aller Augen und lässt sich einfach am Preis nachverfolgen.
Darunter liegt aber noch eine zweite, weniger offensichtliche Zeitebene. Hier tröpfeln die Folgen des Crashes langsam durch das Ökosystem. Märkte verlieren Liquidität, es wird getauscht und repariert, und es werden Entscheidungen getroffen, welcher Coin fallen gelassen und welcher gerettet wird. Manchmal versickern diese Mechanismen, ohne einen spürbaren Effekt zu haben, manchmal brechen sie durch, wenn sie einen Hebel treffen, und werden dann sichtbar.
Dabei zeigt sich ein gigantischer Unterschied zwischen den klassischen Finanzmärkten und Krypto. Krypto ist um ein vielfaches transparenter.
Tether verliert die Parität
Das oberflächlichste Symptom ist immer der Preis. Er ist sowohl in klassischen Finanzmärkten als auch im Ökosystem der Kryptowährungen weithin sichtbar.
Preis von Tether nach coinmarketcap.com
Heute kam es nun dazu, dass der Kurs des wichtigsten Dollar-Stablecoins, Tether (USDT), eingeknickt ist. Das sieht im Chart bedrohlich aus, weil Tether gewöhnlich so stabil ist, doch es handelt sich nur um einen Bruchteil eines Cents. Ein Tiefpunkt lag bei 99,59 Cent je Tether, aktuell sind es wieder 99,78 Cent.
Tether verlor kurzzeitig 0,4 Prozent gegen den Dollar. Das ist nicht viel, aber es kann der Anfang des Endes sein. Sobald ein Stablecoin nicht mehr stabil ist, gibt es nichts mehr, was ihn hält. Kurzzeitig erträgt der Markt eine solche Unterbewertung. Wenn sie sich aber verfestigt, wird dies viele, schwer überschaubare Folgen haben.
Liquiditätspools
Eine zentrale Rolle spielte dabei offenbar die DeFi-Plattform Curve.fi. Curve ist eine Art dezentraler Geldmarkt für Stablecoins. Man kann hier Stablecoins wie USDC, USDT oder DAI gegeneinander tauschen.
Möglich wird der Tausch durch sogenannte Liquiditätspools. Diese enthalten, zunächst zu gleichen Teilen, die verschiedenen Stablecoins. Wenn man dann den einen gegen den anderen tauscht, sagen wir USDT gegen USDC, fließen die einen – USDT – in den Pool und die anderen – USDC – verlassen ihn. Je mehr Einheiten einer Währung in einem Pool landen, desto schwächer ist diese.
Auf Curve änderte sich die Zusammenstellung einiger Pools rasant. Etwa 2pool mit USDT und USDC: Er besteht bereits zu fast 84 Prozent aus USDT.
Ebenso der 3pool mit USDT, USDC und DAI-Dollar. Hier stieg der Anteil der USDT an der Liquidität im Lauf der vergangenen 48 Stunden sprunghaft an.
Chart von Dune Analytics
Es wird an der Stelle aber schwierig, zu sagen, ob Curve Ursache oder Symptom ist. Sind die Tether-Dollar eingeknickt, weil Trader sie auf Curve gegen USDC gewechselt haben – oder haben die Trader auf Curve gewechselt, weil der Kurs eingeknickt ist?
Chronologie eines Angriffs
Wir wissen es nicht wirklich und kratzen an der Oberfläche. Martin Köppelmann von Gnosis kommentiert sarkastisch, dass man nun immerhin einen Bankrun in Echtzeit durch transparente Blockchain-Daten beobachten kann.
Schon allein dies ist bemerkenswert: In einem klassischen Finanzsystem erfährt die breite Masse von einem Bankrun erst, wenn es zu spät ist. Auf der Blockchain kann jeder in Echtzeit mitbekommen, wann der Bankrun stattfindet. Wenn man eine Demokratisierung des Finanzwesens anstrebt, führt der Weg ohne Zweifel über eine Blockchain.
Tatsächlich kann dank der hohen Transparenz der onchain-Märkte noch viel mehr herausfinden. Der Analyst Lookonchain versucht, einen Teil der Ereignisse zu rekonstruieren:
- Zuerst, zwischen 2 und 3 in der Nacht, hat ein Ethereum-Account 52,5 Millionen USDC benutzt, um sich auf den DeFi-Plattformen Aave und Compound insgesamt 40 Millionen USDT zu leihen.
- Sechs Stunden später hat er diese 40 Millionen USDT auf die Börsen Coinbase und Kraken eingezahlt. Was dann geschah, bleibt im Dunkeln, weil Börsen nicht onchain operieren.
- Klar ist aber, dass kurz danach der Preis von USDT einknickte und derselbe Account weitere vier Stunden später 25 Millionen USDC von Coinbase ausgezahlt hat.
- Zwei weitere Wale haben etwa zur selben Zeit über Curve knapp 10 Millionen USDT verkauft
- Ein prominenter DeFi-Wal, CZSamSun, baute kurz danach eine Short-Position für USDT auf Aave auf.
- Doch ein anderer Wal lieh sich auf dezentralen Plattformen USDC, um mit diesen USDT zu kaufen.
- Daraufhin begann sich die Lücke zu schließen.
- Es gab noch eine weitere Welle, in der USDT wieder einknickte, doch die Arbitrage-Händler brachten Tether wieder näher an den Dollar.
Dies wirkt sehr, als haben Wale versucht, die Stimmung am Markt auszunutzen, um durch einige geschickte Schachzüge Tether anzugreifen und durch Short-Positionen zu profitieren. Eventuell ist die Operation bereits erfolgreich zu Ende geführt, also mit Profit, oder sie ist am Widerstand des Marktes abgeprallt.
In jedem Fall spielt sich das, was früher in den Black Boxes von Börsen und Brokern ablief und erst viel später an die Öffentlichkeit gelangte, live vor aller Augen ab. Dies kann auch den Effekt haben, dass eine breite Koalition von Marktteilnehmern früh begreift, wie wenig Munition ein Angriff hat – 40-50 Millionen Dollar sind zu wenig, um Tether auch nur anzukratzen – und dann durch Arbitrage davon profitiert, die Kurse wieder zu reparieren.
Markets are edgy in these days, so it's easy for attackers to capitalize on this general sentiment.
But at Tether we're ready as always. Let them come.
We're ready to redeem any amount.— Paolo Ardoino 🍐 (@paoloardoino) June 15, 2023
Tether selbst reagiert gelassen. Die Märkte, gab CTO Paolo Ardoino bekannt, seien wild in diesen Tagen, „was es für einen Angreifer einfach macht, die Stimmung auszunutzen. Aber bei Tether sind wir, wie immer, bereit. Lasst sie kommen. Wir sind bereit, jeden Betrag auszuzahlen.“
Sofern es nicht etwas gibt, was wir nicht wissen, dürfte sich dies bewahrheiten.