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Graswurzeln und Gauner: Bitcoin und Kryptowährungen in Osteuropa

source-logo  bitcoinblog.de 29 September 2020 05:20, UTC

Die Blockchain-Analysefirma Chainalysis veröffentlicht einen recht interessanten Bericht über Kryptowährungen in den verschiedenen Regionen der Welt. Das Kapitel über Osteuropa zeigt, dass Kryptowährungen dort weiter verbreitet und akzeptiert sind als irgendwo anders – aber auch, dass die Kriminalität nirgendwo anders mehr Einfluss auf das Ökosystem hat.

Was bedeutet „Adoption“?

Eines der typischen Probleme von Krypto-Bloggern ist, dass uns jeden Tag englischsprachige Begriffe um die Köpfe fliegen, ohne dass es für sie eine gute Übersetzung gäbe. Zum Beispiel „Adoption“. Jeder weiß, was gemeint ist: Der Prozess, den die breite Masse durchläuft, bevor jedermann Bitcoin wie Geld benutzt. Aber wie drückt man es auf Deutsch aus? Adoption? Verbreitung? Akzeptanz? Anwendung?

Wir bleiben für heute bei dem Wort „Adoption“ und fragen weiter, wie man es messen kann. Wie lässt sich feststellen, wie weit ein Land auf dem Weg zur Massen-Adoption?

Die Blockchain-Analyse-Firma Chainalysis versucht dies durch einen „Crypto Adoption Index“ auszudrücken. Der soll messen, wie weit die Adoption von Kryptowährungen gedienen ist.

Der Index beruht auf mehreren Säulen: Zum einen sind da die Beträge, die ein Land in Kryptowährungen („onchain“) empfangen und versendet hat, also der Import- und Export oder der ein- und ausgehende Cashflow in Krypto. Diese Werte werden mit der Wirtschaftsstärke des Landes abgeglichen. Nicht die absolute, sondern die relative Höhe der Zahlungen weist auf die Intensität der „Adoption“ hin. Eine weitere Säule ist der P2P-Handel. Je mehr Volumen dieser hat, desto größer die Adoption. Dieser Wert ist meiner Meinung nach etwas fragwürdig, da der P2P-Handel meist ein eher spezielles Klientel anzieht und daher eher wenig über die generelle Adoption aussagt.

Bild aus dem Bericht von Chainalysis.

Das Ergebnis des Adoption Index von Chainalysis ist nun, dass die Ukraine und Russland die beiden Länder der Welt sind, die die höchste „Krypto-Adoption“ erreicht haben. Dies macht Osteuropa, so der Analyst, zur Region mit der stärksten Graswurzel-Adoption der Welt. Die Werte zeigen, um es klar auszudrücken, an, „dass ein viel größerer Teil der Bevölkerung ihre finanzielle Aktivität auf Kryptowährungen verlegt hat als in anderen Ländern.“

Korruption und Misstrauen als Treiber

Mit dem geographischen Bericht zu Kryptowährungen bündelt der Analyse-Dienstleister Chainalysis die ihm vorliegenden Infos zu verschiedenen Weltregionen, um deren „Krypto-Profil“ zu ermitteln: um aufzuzeigen, wie welche Region Kryptowährungen in welchem Umfang verwendet. Es kommt selten vor, dass eine Datenanalyse einen so starken Fokus auf die praktische Anwendung hat wie hier, und dass ein Datenanalyst seine Daten in so interessanter Weise ausbreitet.

Das Kapitel über Osteuropa beginnt mit der Feststellung, dass gleich zwei Länder Osteuropas an der Spitze des Adoption Index stehen. Warum ist das so?

Ein Grund liegt wie so oft nicht in Kryptowährungen selbst, sondern in den Umständen. Je ungünstiger diese sind, desto höher sind die Anreize dafür, auf Krypto umzusteigen. Kryptowährungen sind kein Schönwettergeld, sondern ein Geld, das vor allem dann wichtig wird, wenn das andere Geld scheitert.

In Russland und der Ukraine ist nun ein „weit verbreiteter Mangel an Vertrauen in öffentliche Institutionen“ zu beobachten. Laut einem Bericht steht Russland weltweit an allerletzter Stelle, wenn es um das Vertrauen der Öffentlichkeit in Institutionen, Unternehmen und Medien geht. Sowohl in Russland als auch der Ukraine seien „Bestechung, Vetternwirtschaft und jede Art von Korruption“ an der Tagesordnung, und „es ist allgemein bekannt, dass Gelder von Unternehmen und Bürgern beschlagnahmt werden können, wenn diese nicht länger die Gunst von Beamten genießen.“ Beide Länder vereint auch ein tief sitzendes und weit verbreitetes Misstrauen gegen die Banken. Eine solche Stimmung ist ein guter Nährboden für die Verbreitung eines Geldes, das die Abhängigkeit von Banken und Regierungen abgeschüttelt hat.

Daneben nennt der Bericht noch einen wirtschaftshistorischen Grund: Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entwickelte sich das Bankwesen anders als im Westen. Es gab eine sehr viel dünnere Infrastruktur, um Geld von einem Bankkonto zum anderen oder ins Ausland zu überweisen, weshalb sich in Osteuropa eine Vielzahl von regionalen Anbietern bildete, die viele halboffiziellen Finanzinstrumente benutzte und anbot, etwa Gutscheine oder Hawala-artige Börsen. Die Regulierung war und ist daher weniger dicht als in Westeuropa, was Kapitalflucht und Geldwäsche entgegenkommt. Teile dieser Infrastruktur dürften weniger Berührungsängste mit Bitcoin und anderen Kryptowährungen haben als die durchregulierten Banken im Westen.

Das Krypto-Profil Osteuropas

All das lenkt aber eher von dem ab, was uns hier interessiert: Wie sehr benutzt Osteuropa Bitcoin – und, vor allem: wofür?

Der Chainalysis-Bericht erklärt, dass Russland im Lauf der vergangenen 12 Monate mehr als 16,8 Milliarden Dollar in Kryptowährungen versendet und 16,6 Milliarden Dollar empfangen habe. Bei der Ukraine seien es 8,2 bzw 8,0 Milliarden Dollar. Die beiden Länder sind die mit Abstand wichtigsten Krypto-Märkte der Region, die insgesamt je Jahr etwa 41 Milliarden Dollar in Kryptowährungen ein- und ausführt.

Bild aus dem Bericht von Chainalysis

Das Volumen der Ein- und Ausfuhren dient als Größenordnung für die Krypto-Wirtschaft in der Region und in den Ländern. Absolut gesehen ist sie in Russland und der Ukraine viel kleiner als in China und den USA, doch relativ gesehen, also im Verhältnis zu Bevölkerungsanzahl und Wirtschaftsgröße, ist sie viel größer.

Den größten Anteil der Ökonomie nimmt auch in Osteuropa der „professionelle Sektor“ ein. Chainalysis zählt dazu alle Transaktionen mit einem Wert von mehr als 10.000 Dollar. Wiewohl hinter solchen Transaktionen öfters „Professionelle“ stehen als hinter kleinen Summen, sollte man in diese Unterscheidung nicht zuviel hineindenken. Es dürfte ein Vielzahl an „Privatleuten“ geben, die auch in dieser Größenordnung hantieren.

Mit einem Anteil von 85 Prozent nehmen die Profis in Osteuropa nicht ganz so viel Raum ein wie in Westeuropa, Nordamerika und Ostasien mit 90 Prozent, aber mehr als in Südamerika und Afrika. Chainalysis weist darauf hin, dass es mittlerweile auch in Osteuropa einige Vermögensverwalter gibt, die sich auf Kryptowährungen und Krypto-Startups spezialisiert haben. Es scheint hier eine Art Gentrifizierung von Bitcoin zu geben, die man auch schon vorher in anderen Regionen beobachten konnte.

Auf den Märkten Osteuropas ist ein starkes Wachstum von P2P-Börsen zu beobachten, wie etwa Paxful oder LocalBitcoins. In Russland habe sich die Useranzahl seit der Corona-Pandemie mehr als vervierfacht, was laut Beobachtern daran liegt, dass das monolithische Bankensystem den Bürgern nicht viele alternative Investments ermöglicht und es aufgrund der mangelhaften Regulierung und Rechtssicherheit kaum gute Börsen gibt. Anders als sämtliche anderen Regionen benutzen Osteuropäer so gut wie keine einheimischen Börsen.

Bild ebenfalls aus dem Bericht von Chainalysis.

Die Gegenparteien der Transaktionen nach und aus Osteuropa sind Ostasien, West-/Nordeuropa, Nordamerika und Osteuropa, in genau dieser Reihenfolge. Wie schon in Afrika könnte man die führende Position Ostasiens hier mit chinesischen Händlern in der Region erklären, die Geld nach China senden. Zumindest für Russland gibt es Hinweise darauf, dass dies in relativ großem Maßstab passiert.

Einzigartig wird das Profil von Osteuropa aber durch einen anderen Faktor: Die Kriminalität.

Darknetmärkte und Ransomware

Chainalysis zeigt ein Säulendiagramm mit den 20 Dienstleistern, die die meisten Werte an Adressaten in Osteuropa senden. Auffällig an diesem Diagramm ist, dass darunter so gut wie kein einheimisches Unternehmen ist, sondern nur die übliche großen Börsen dieser Welt, die in Ostasien, Nordamerika oder Westeuropa beheimatet sind. Damit besitzt Osteuropa eine bemerkenswert schwache eigene Krypto-Infrastruktur. Selbst in Südamerika, Afrika und dem Nahen bzw. Mittleren Osten steuern die Menschen Börsen aus der Heimat an.

„Die einzige Aussahme von diesem Mangel an heimischen Krypto-Unternehmen mit signifikantem Erfolg ist“, erklärt Chainalysis, „der Darknet-Markt Hydra.“ Dieser berühmte Darknet-Markt hatte ein Volumen von mehr als einer Milliarden Dollar in Kryptowährungen im Lauf der letzten 12 Monate und steht damit in der Liste der für Osteuropa volumenstärksten Plattformen an sechster Stelle. Hydra ist einer der weltweit größten Darknetmarkets, und das, obwohl er nur in Osteuropa operiert und 100 Prozent seiner Transaktionen an Adressaten in Osteuropa sendet.

Dass ein Darknetmarkt überhaupt in der Liste der für eine Region wichtigsten Plattformen auftritt, ist nur in Osteuropa zu sehen. Das allein ist ein starker Hinweis, dass die kriminelle Nutzung von Kryptowährungen hier eine größere Rolle spielt als anderswo. Genau genommen, so Chainalysis, „stellt Osteuropa mehr Aktivität auf Darknet-Märkten als jede andere Weltregion.“

Einen großen Anteil spielt dabei Hydra, der große osteuropäische bzw. russische Darknet-Markt, der vermutlich als einziger dieser Märkte einen echten Fuß im flächendeckenden organisierten Drogenhandel gefasst hat. Kein anderer Markt in keiner anderen Region hat beispielsweise ein so ausgeklügeltes Liefersystem, bei dem Kuriere die Waren an verborgenen Plätzen ablegen.

Nicht weniger stark ist Osteuropa in der Ransomware. Laut Chainalysis sind mehr als 23 Prozent der Bitcoins, die an Ransomware-Adressen gesendet wurden, nach Osteuropa geflossen. Dies zeige, dass Osteuropa die Heimat „der am besten verdienenen Admins von Ransomware-Netzwerken sowie von Betreibern von Ransomware-as-a-service Diensten“ sei.

Man könne die starke Neigung zu Kriminellem dadurch begründen, dass Russen gute Hacker sind, da IT in der Schule eine größere Rolle als in anderen Regionen spiele, aber die legalen ökonomischen Chancen geringer seien. Die Einnahmen durch den illegales Einsatz der Fähigkeit sind um ein vielfaches größer als auf dem legalen Weg. Gleichzeitig weiß jeder, dass Regierung und Banken bis ins Mark korrupt sind, und dass die Regierung auch Hacker unterstützt, wenn es ihren Zwecken hilft. Warum sollte man da auch nicht?

Trotz dieser starken kriminellen Bereiche bleibt der Anteil von Bitcoin-Transaktion mit einer kriminellen Vergangenheit auch in Osteuropa unter zwei Prozent. Selbst hier benutzen die Menschen Bitcoin und andere Kryptowährungen zum allergrößten Teil aus ehrlichen Motiven.

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